Amboise

Von Blois nach Bléré

Dienstag, 09. Mai 2017

Amboise

Ein reichhaltiges Frühstück wartet auf uns im Wohnzimmer: Croissant, Marmelade, Pancakes, Joghurt und Kaffee stehen für uns bereit. Die Kaffeetassen haben sie wohl vergessen, aber ansonsten kann man nicht meckern. Nach dem obligatorischen Frühstücksnickerchen fahren wir entspannt bei schönem Wetter nach Amboise. Wir folgen wieder den Schildern für Fahrradfahrer und wundern uns etwas über den Weg, der so gar nicht in die Richtung verläuft, die wir am Tag zuvor mit dem Auto gefahren sind. Es geht eine ganze Weile am Cher entlang und wir sehen uns schon kurz vor Tours, als der Weg vor einem kleinen Flugplatz ins Landesinnere abbiegt. Wir könnten genauso gut auch in Altötting sein. Um uns herum Felder, kleine Dörfer und laute Landstraßen. Unter so einer fahren wir drunter durch bevor wir den Ort Dierre passieren.

Hinter Dierre müssen wir ziemlich steil bergauf, aber der Blick auf die schönen Weinstöcke am Wegesrand entschädigt etwas dafür. Hinter den Weinbergen beginnt der Wald von Amboise, den wir ca. 5km durchqueren, bis wir im Vorort von Amboise rauskommen, wo wir uns nur noch bis zur Loire runterrollen lassen können. Wir kommen an einem riesigen Parkplatz vorbei, der zum Glück noch recht leer ist. Noch etwas auf dem Damm an der Loire entlang, auf der anderen Straßenseite sehen wir auch die Pizzeria vom gestrigen Abend wieder. Unter dem Schloss überqueren wir die Straße und stellen unsere Fahrräder neben der Rampe ab. Mama und ich stürzen uns gleich auf den erstbesten Souvenirladen mit Postkarten, denn das haben wir in den letzten Tagen sträflich vernachlässigt. Ich habe aber kein Bargeld dabei und Papa hat sich schon ins Schloss verzogen, also lassen wir die Postkarten erst mal Postkarten sein.

Barrierefrei kommen wir über weitere Rampen auf den Schlosshof und sind beeindruckt von der grünen Oase über der Stadt. Wunderschöne Gärten steigen sanft im hinteren Teil an. Zum Fluss hin sehen wir ein relativ kleines Schlossgebäude, direkt vor uns sitzt eine Kapelle am Abgrund. Dazwischen ist viel Platz. Etwas ziellos mäandern wir über den großzügigen Schlosshof, es ist angenehm leer, nur eine russische Reisegruppe trottet etwas missmutig durch die Gegend. Papa kommt aufgeregt aus der Kapelle wieder: „Guckt mal, wer da begraben liegt!!!“ Elvis Presley vielleicht? Viel besser: es ist Leonardo da Vinci, seines Zeichens italienisches Genie.

Erstaunlich nüchtern kommt die Grabplatte in der kleinen Kapelle daher, nur eine einzelne weiße Rose liegt unter dem steinernen Profil. Aber wieso ist er hier begraben und nicht in Italien? Die letzten drei Jahres seines Lebens wurde er von König Franz I. nach Frankreich geholt und bespaßte ihn mit seiner Anwesenheit und seinen genialen Ideen. Er war maßgeblich an der Gestaltung von Chambord beteiligt, erlebte dessen Bau allerdings nicht mehr. Sein letztes Anwesen ist nur ein paar Hundertmeter vom Schloss entfernt und wird später auch noch von uns besucht.

Ich mache viele Fotos von dem fabelhaften Ausblick, den man vom Schlosshof auf die Altstadt und die Loire hat. Zwei Fahnen – eine französische und eine europäische – flattern patriotisch im Wind. Wir betreten das Schloss und entdecken als erstes ein Modell des Schlosses aus Holz. Eine Galerie öffnet sich zum Fluss hin und bietet eine gute Sicht auf den massiven Minimes-Turm. In den Schloßräumen befinden sich wieder die obligatorischen Wandteppiche, Holzmöbel und wuchtige Kamine mit offenem Feuer. Wände, Decken und Kamine sind verziert mit der Schwertlilie Frankreichs und dem Hermelinschweif der Bretagne. Weiterhin findet man die Initialien von Karl VIII. und Anne de Bretagne, welche das Schloss als königliche Residenz ausbauten.

Auch Katharina von Medici residierte hier und baute es weiter aus. Nach dem Tod Heinrich II. ging die Krone an den schwächlichen, pubertierenden Sohn Franz II. und ein blutiger Zwischenfall sollte dafür sorgen, dass zukünftige Könige das Schloss eher mieden. Hugenottische Verschwörer wollten 1560 den junge König in Blois entführen, wurden aber im Wald von Amboise geschnappt und auf dem Schloss vor den Augen der Königsfamilie grausam hingerichtet. Das Spektakel zog sich mehrere Tage hin, auch Maria Stuart musste zugucken, sie war die Frau von Franz II. Danach wurde das Château Royal hauptsächlich als Staatsgefängnis genutzt. Der Kapitän der Musketiere, D’Artagnan, weilte hier ein paar Tage, als er den Finanzminister von Ludwig XIV. ins Gefängnis brachte.

Die Zimmer der zweiten Etage beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Bürgerkönig Louis-Phillippe und dessen Familie. Der Revolutionsbefürworter wurde ironischerweise 1830 zum König gekrönt, diesmal aber mit Legitimation des Volkes und des Parlaments. In seine Regierungszeit fiel die französische Industrialisierung, das Proletariat entstand, soziale Probleme verschärften sich und Louis-Phillipe wurde zunehmend konservativer in seinem Regierungsstil. 1848 wurde er in der Februarrevolution entmachtet und floh ins englische Exil. Sein Nachfolger war der Neffe von Napoleon, der sich zunächst zum Staatspräsidenten und später zum französischen Kaiser ernennen ließ.

Es geht wieder auf eine Außengalerie und dann in den Minimes-Turm, dessen Besonderheit eine riesige spiralförmige Rampe im Inneren ist, auf der sogar Kutschen in den Schlosshof gelangen konnten. Im schummrigen Licht steigen wir hinauf und kommen wieder auf dem Schlosshof heraus, vor uns die aufwändigen Gärten. Ein aufgeregter Fotograf hüpft um eine edle asiatische Dame herum und fotografiert sie vor jedem Blumentopf. Der Garten besteht aus lauter grünen Bommeln und mein Handyakku macht schlapp. Bilderrahmen wurden geschickt in die Landschaft gestellt, sodass man Fotos davon machen kann, wie jemand seinen Kopf lustig dadurch steckt.

Mit Papas Handy knipse ich fröhlich weiter die Gegend ab. Balkons im Mauerwerk, sogenannte Bellevues, eröffnen einen schönen Blick auf die Loire. Angeblich soll es hier noch ein Stachelschwein-Bellevue mit dem Wappentier Ludwigs XII. geben, aber ich finde es einfach nicht. Dafür finde ich den orientalischen Garten, der in Gedenken an die verstorbenen Familienmitglieder von Emir Abd El-Kader angelegt wurde. Der Emir lebte 4 Jahre als Gefangener mit seiner Familie auf Schloss Amboise und verfasste in dieser Zeit die Abhandlung: „Die scharfe Schere zum Abhacken der Zunge desjenigen, der die Religion des Islams durch Verleumdung und Ketzerei herabsetzt“. 1852 wurde er frei gelassen.

Ein Teil des Gartens ist abgesperrt, weil die Landschaftsgärtner und Bauarbeiter am Werke sind. Wir drücken uns noch an einem Turm entlang und Papa lässt sich mit der schneeweißen Büste Leonardo da Vincis ablichten, bevor wir das Schloss durch den Souvenirladen verlassen. Der zuvor erwähnte Turm hat auch eine Rampe im inneren, von dessen Wänden uns gruselige Fratzen auslachen. Weil wir einigermaßen hungrig sind, setzen wir uns in ein Bistro gegenüber vom Schlossausgang und bestellen bei dem sehr französischen Kellner im Ringelshirt Burger und Salat, wobei mein Salat nur aus ein paar grünen Blättern und Kartoffelwürfeln besteht.

Im Souvenirshop lassen wir nochmal ordentlich Kohle für Magnete, Postkarten und Taschen, die Verkäuferin ist Russin (?) und spricht neben Französisch und Englisch auch Deutsch. Unser nächstes Ziel ist Clos Lucé, das letzte Anwesen von Leonardo da Vinci, welches sich nur 500m die Straße runter befindet. Die Fahrräder werden unter einem schattigen Baum geparkt, an der Ticketkasse spricht man auch deutsch. Wir haben schon die Galerie über dem Eingang betreten, als Mama einfällt, dass sie ihr Handy in der Fahrradtasche vergessen hat. Papa und ich warten geduldig.

In den Wohn- und Schlafräumen des Meisters ist es leider rappelvoll, deshalb halten wir uns da nicht so lange auf. Wie es sich für ein Anwesen gehört, gibt es hier auch eine schnucklige Kapelle mit interessanten doppelflügligen Türen. Im Erdgeschoss befindet sich die Werkstatt und das Atelier mit Skizzen, Werkzeugen, Totenköpfen und allerlei anderem Krimskrams. Das Universalgenie hat auf so ziemlich allen Gebieten der Kunst und Naturwissenschaften geglänzt. In einem anderen Raum unterhält sich das Hologramm von da Vinci mit dem Hologramm eines anderen Mannes – vielleicht Franz I. – auf Französisch, daneben die obligatorische Mona Lisa – natürlich nur eine Kopie. Eine große Kindergruppe wuselt in der Küche rum und wird uns den Rest der Zeit noch verfolgen.

Das Haus ist wirklich mit viel Liebe zum Detail eingerichtet, vor allem das Kellergewölbe mit den Modellen von da Vincis Erfindungen fasziniert: vom Fallschirm über den Panzer bis zum Autogetriebe hatte er für fast jedes Problem eine Idee, von denen zu seiner Zeit natürlich kaum eine umgesetzt werden konnten. Viele gerieten sicher auch in Vergessenheit. Durch einen schön angelegten Garten mit Springbrunnen gehen wir in den Souvenirshop, wo ich mich mal wieder nicht enscheiden kann. Nach ewigem Hin und Her entscheide ich mich für einen Jutebeutel, für den ich allerdings noch Pläne habe…

Wir entspannen uns ein wenig in dem Garten vor dem Restaurant, bevor wir über eine Treppe auf eine untere Ebene gelangen und damit in den eigentlichen Park kommen, der wirklich riesig ist. An mehreren Stationen werden die Erfindungen da Vincis greifbar. Zunächst geht es um seine Naturstudien und die Darstellung von Pflanzen in seinen Bildern. Etwas lächerlich wirkt der künstliche Nebel, der aus Düsen in einem Teich verströmt wird und wohl eine geheimnisvolle Atmosphäre schaffen soll. Über den Teich spannt sich eine zweistöckige Brücke. Hier eine Mühle, da eine Archimedische Schraube und immer die Kindergruppe auf unseren Fersen…

Egal wie oft wir auch vom Weg abzweigen, sie holen uns immer wieder ein. Eine interessante Brückenkonstruktion und ein geniales Wassersystem weiter lunzen zwischen Bäumen der vitruvische Mann, die Muskeln eines Pferdes und ein überdimensionales Frauengesicht – natürlich nur die Skizzen davon auf riesigen transparenten Stoffbahnen. Das Spiel von Licht und Schatten trägt zur schönen Atmosphäre bei und man müsste sich eigentlich einen ganzen Tag nehmen, um alles zu sehen und zu verstehen. Leider ist es schon später Nachmittag und wir sind gesättigt von den vielen Eindrücken – die berühmte Luftschraube und den Panzer lassen wir uns aber nicht nehmen. So schlendern wir entspannt wieder zum Ausgang, gehen noch über die Bosporus-Brücke, die eigentlich Goldenes-Horn-Brücke heißen müsste und schwingen uns auf unsere Fahrräder, um den langen Weg nach Hause anzutreten.

Da wir uns auf dem Hinweg vom Wald in die Stadt haben runterrollen lassen können, müssen wir jetzt umso heftiger strampeln, um wieder nach oben zu kommen. Ab da ist es aber eine wesentlich entspanntere Strecke und das Stück durch den Wald, das sich am morgen noch so hingezogen hat, ist jetzt kaum noch der Rede wert. In Bléré angekommen suchen und finden wir einen kleinen Supermarkt im Stadtzentrum. Ich würde gern ein Eis essen, aber finde nichts passendes und ziehe mit Mama noch weiter, während Papa zurück zur Unterkunft fährt. Nach einigem Hin und Her finden wir eine nette Patisserie mit selbstgemachtem Eis. Mama kauft ein riesiges Meringue, also Baiser, und natürlich ein Baguette. Gegenüber vom maison d’ecluse setzen wir uns ans Ufer des Cher und verputzen die Leckereien.

Da es etwas frischer wird, fahren wir aber auch alsbald zur Unterkunft zurück. Ich verabrede mit unserem Gastvater, dass wir am nächsten Morgen ohne Frühstück Richtung Tours aufbrechen, er wird uns aber ein paar Pancakes und Croissants einpacken.

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